von Albert Müller-Schmid Zug
siehe auch:
Gersau von der Republik zum Bezirk
Photos aus der Festschrift: Gersau 650 Jahre im Bunde der Eidgenossenschaft
Vor dem Hauptthema "Gersau zur Zeit der Helvetik"
soll ein kurzer Rückblick an die eigenartige Entwicklung
der Geschichte dieses kleinen Dorfes am Vierwaldstättersee
erinnern
Die erste urkundliche Erwähnung von Gersau erscheint
im Stifterbuch des Klosters Muri. "Gersouwe per totum"
- Gersau in seinem ganzen Gebietsumfang - ist als Besitz des neugestifteten
Klosters Muri (1027) bei der Einweihung der Klosterkirche im Jahre
1064 eingetragen. Die Grundherrschaft und Vogtei über Gersau
fiel bald an das Haus Habsburg, und damit begann das wechselvolle
Los der Verpfändung. Die entscheidende Tat der freien Grundbesitzer
von Gersau bestand im Loskauf von der Vogtei am 3. Juni 1390.
Damit hörte die fremde Grundherrschaft auf, und die Rechte
der Vogtei, Steuern und Gerichtsbarkeit fielen an die Hofleute
von Gersau.
Das Verhältnis Gersaus zu den habsburgischen
Lehensträgern dürfte nicht schlecht gewesen sein, aber
die politischen Ereignisse in der Urschweiz brachten Gersau stärker
an die Seite der Gründer der Eidgenossenschaft. Am 31. August
1359 wurden die "ehrbaren Leute, die guten Nachbarn und Kilchgenossen
von Gersau und Weggis" ins Bündnis der Eidgenossen aufgenommen.
Ueber 400 Jahre lang erfüllten die Gersauer treu ihre Bundespflichten,
gaben sich eigene Gesetze und übten die hohe Gerichtsbarkeit
selbst aus; als freie Gemeinde gab sie sich ein eigenes Hof- und
Eherecht.
Die Stellung Gersaus zu den Waldstätten war
rechts- und verfassungsgeschichtlich die eines Zugewandten Ortes.
Die Zugewandten Orte (z.B. Abtei Engelberg seit 1420, Mülhausen
seit 1515 usw.) waren aus politischen und wirtschaftlich-praktischen
Verhältnissen herausgewachsen. Ein gemeinsames Merkmal dieser
Zugewandten bestand darin, dass sie nicht als Vollmitglieder zum
eidgenössischen Bundeskörper gehörten. Sie traten
ja meist nur mit einzelnen Ständen in ein Vertragsverhältnis,
so z.B. Gersau mit den IV Waldstätten, die damit eine Schutz-
und Schirmherrschaft übernahmen. Weitere "Minderrechte"
der Zugewandten lagen darin, dass sie nur beratend oder überhaupt
keinen Zutritt zu den Tagsatzungen hatten und auch keinen Anteil
an den Gemeinen Herrschaften noch an den Pensionen besassen. Wenn
wir Gersau als Zugewandten Ort noch in seiner geographischen Abgeschlossenheit
betrachten - Kuno Müller schreibt zu recht: "Gersau
sitzt in der Loge vor dem Alpenpanorama" -, dann erst können
und müssen wir auch das zutiefst verwurzelte Eigenleben und
Eigenbewusstsein der Bürger der altfryen Republik Gersau
zu verstehen versuchen.
Die kleine, unabhängige eidgenössische
Gemeinde Gersau stand zum Deutschen Reich und seinem Kaiser in
einem ganz besonderen Verhältnis. Als "Kleinod"
im Grenzgebiet zwischen Schwyz und Luzern musste es natürlich
immer etwas um seine Unabhängigkeit und Souveränität
bangen. Deshalb suchte es den Schutz des Reiches. Im Konzilsjahr
1433 hielt sich Kaiser Sigismund in Basel auf, und diese Gelegenheit
nützten die Gersauer: Sie baten den Kaiser um Bestätigung
der erlangten Freiheiten. In der Kaiserurkunde vom 31. Oktober
1433 wurden Ihnen "Freiheiten, Rechte, gute Gewohnheiten,
Privilegien und Handfesten" bestätigt. Als reichsunmittelbare
Gemeinde hatte Gersau den gleichen Status zum Reich wie die beiden
gewichtigeren Talschaften von Uri und Schwyz. Die reiche, wechselvolle
Geschichte als Freistaat und Republik dauerte bis zum Untergang
der Alten Eidgenossenschaft im Jahre 1798.
Als Zugewandter Ort war Gersau nicht gleichberechtigter
Partner der eidgenössischen Orte; es erhielt aber einen besonderen
Schutz von seinen vier "Schirmorten" Uri, Schwyz, Unterwalden
und Luzern. Dafür musste es auf deren Gesuch hin an Kriegszügen
teilnehmen. Mit der Landesfahne von Gersau eilte eine Mannschaft
den Eidgenossen in der Schlacht bei Sempach zu Hilfe und erbeutete
gleich das Banner des Grafen Rudolf von Hohenzollern. Der Eintrag
dieser Bannerbeute kann im Chor (rechts) der Schlachtkapelle zu
Sempach heute noch nachgelesen werden. Im alten Zürichkrieg,
im Burgunder- und Schwabenkrieg und insbesondere in den Kappeler
Kriegen (1529/1531) hatten jeweils 20 bis 30 Gersauer unter ihrem
Landesfähnrich mitgekämpft. Im Bauernkrieg (1653) und
im 2. Villmerger Krieg von 1712 nahmen bis gegen 100 Gersauer
auf der Seite der Waldstätter teil.
Gersau erfüllte also seine Bündnispflichten
treu, zuverlässig und ohne grosses Aufsehen. Mag sein, dass
die eigenwilligen Gersauer mit ihrem rot-blauen Fähnlein
das eine Mal zu spät kamen, das andere Mal als ein gar sonderbares
Kuriosum bestaunt wurden und zu lustigen Scherzen und Sticheleien
Anlass gaben. Liegt nicht in der speziellen, einmaligen Eigenart
dieses Freistaates und seiner freiheitsbewussten Bewohner der
Urgrund für jene sattsam bekannten Witzeleien ("gersauern")
und "Gersauer-Stückli", die auch in andern, ähnlich
abgelegenen und sonderbaren Dörfern (Schilda, Furna, Merligen)
nacherzählt werden.
In Gersau fanden übrigens recht häufig
Konferenzen und Tagsatzungen der katholischen Orte statt. Der
kleine Flecken am See war abgelegen und - abgesehen von schmalen
Fusswegen nach Brunnen und Vitznau und über den Gätterlipass
und die Scheidegg - nur mit Schiffen erreichbar. Zudem grenzte
es in seiner Kleinheit an alle vier Schirmorte Uri, Schwyz, Unterwalden
und Luzern!
Gersau vor der Helvetik
Genau 50 Jahre vor dem Ausbruch der Revolution in
Frankreich wurde Gersau von einer ebenso verheerenden Ueberschwemmung
heimgesucht wie im Jahre 1984. Die Kirche befand sich damals noch
unterhalb des alten Friedhofs, direkt am See. Nur unter grössten
Anstrengungen konnte das Ufer mit einer Schutzmauer so gesichert
werden, dass die Kirche nicht vollends in den See versank. Dagegen
stürzte der im Jahre 1626 erbaute Turm samt Schützenhaus
(von dort schoss man zu jener Zeit zum "Scheibenegg")
in den See; die den Häusern vorgelagerten Gärten brachen
von der Gruobenmatte (heute der Bereich vom Seegarten bis zum
Dorfbach) bis zur Bachstatt-Wiese (ehemals Villa Flora, heute
Rathaus mit Parkanlage) ein, und die Wiesen und Matten sollen
"3 bis 4 Fuss tief unter Steinen und Sand" verschüttet
worden sein. Ironie des Schicksals: der französische Gesandte
in Solothurn liess der so verwüsteten Republik Gersau eine
"Beisteuer von 500 Schweizerfranken" zukommen. Schon
6 Jahre später erbauten die Gersauer in Fronarbeit ein neues
Schützenhaus und für die damalige Zeit auch ein repräsentatives
Rathaus, das im Jahre 1982 fachgerecht restauriert wurde. Dieses
stattliche Rathaus von 1745, das in der Dachuntersicht mit den
Gersauer Gechlechterwappen geschmückt ist, kann nach dem
Brand des Gerbihauses im Jahre 1994 als eine der letzten Bauten
aus der Zeit der Republik betrachtet werden.
Im Jahre 1770 erlebte Gersau selbst eine kleine innere
"Anken-Revolution", als nämlich der Rat beschlossen
hatte, die Butter künftig allein auf dem Markt in Luzern
verkaufen zu lassen. Die Bauern wehrten sich gegen diese Einschränkung,
zumal der Handelsweg über den Gätterlipass nach Schwyz
kürzer und einfacher war. Die Unruhestifter wurden gebüsst;
der Anführer verlor zusätzlich noch sein Stimm- und
Wahlrecht für 2 Jahre. Der "Anken-Handel" konnte
an der Landsgemeinde von 1771 gütlich beigelegt werden: der
freie Verkauf von Anken soll nach altem Recht und Brauch auf den
Märkten aller "benachbarten Bundesorte" gestattet
sein.
Ein kulturgeschichtliches Ereignis traf am 19. Juni
1775 in Gersau ein, ohne dass vermutlich die republikanische Bevölkerung
gross Kenntnis davon genommen haben dürfte: Johann Wolfgang
von Goethe wurde mit seinem Begleiter, Graf Friedrich Leopold
von Stolberg, an die Gestade der Republik gerudert. Leider schrieb
der Dichterfürst nichts über die Republik in sein Tagebuch;
dort steht nur: "Auf dem See von Izenach (= Vitznau) nach
Gersau; zu Mittag im Wirtshaus am See". Immerhin hat Goethe
in einer hübschen Bleistiftzeichnung den Anlegeplatz samt
Boot und Blockhütte bei der Kirche und beim Gasthaus festgehalten.
Noch vor Beginn der französischen Revolution
entstand in Gersau die erste Industrie, die sog. Florettseiden-
oder Schappeindustrie. Die Frühphase (1730 - 1760) bestand
darin, dass Ferger das Rohmaterial bearbeiteten; die Gersauer
Ferger waren weitherum geschätzte, flinke Seidenbearbeiter.
Allmählich verlagerte sich aber die Heimarbeit der Ferger
in eigends dazu errichtete Fabriken, in denen das Kämmen
und Spinnen von Seide auf einfache Art industriell verrichtet
wurden. In "Geschichte der Republik Gersau" (Einsiedeln
1863) schreibt der Verfasser Damian Camenzind dazu (S. 52): "Mehrere
bedeutende Handelsfirmen wurden gegründet; ein reges, industrielles
Leben entwickelte sich bis in die entlegensten Berghütten
der kleinen Landschaft: guter Verdienst, ziemlich allgemeiner
Wohlstand und Reichthum bei Einzelnen waren die Folgen davon.
Das unansehnliche Dörfchen (!) mit seinen altersgrauen, schindelbedeckten
Holzhäusern verwandelte sich in einen freundlichen Flecken
mit stattlichen Häusern und niedlichen Gärten; die arme
Republik (!) erhob sich zu Ehren und Ansehen, geschätzt von
ihren Bundesgenossen, beneidet von weniger Glücklichen."
Noch ein weiteres Ereignis vor Ausbruch der Revolution
soll hier erwähnt werden. Am 4. Dezember 1780 wurde der Gersauer
Benediktinerpater Beat Küttel (1732 - 1808), Sohn von alt
Landammann und Landeshauptmann Johann Georg Küttel (1697
- 1792), zum Abt des Klosters Einsiedeln gewählt. Abt Beat
Küttel setzte sich ganz wesentlich für den Neubau einer
Marzellus-Kirche ein. Kurz nach den Revolutionswirren und noch
von der Not durch fremde Einquartierungen, Plünderungen und
Requisitionen gekennzeichnet, beschlossen die Gersauer am 9. Dezember
1804 den Bau einer neuen Kirche. Die Einsegnung fand am 14. September,
der erste feierliche Gottesdienst am 25. Oktober 1812 statt. Die
neue, stattliche Pfarrkirche steht gleichsam im Uebergang von
der Epoche der ehemaligen Republik zur neueren Zeit als Bezirk
und damit Teil des Kantons Schwyz.
Ein interessantes, im damaligen Alltagsleben eher
seltenes Vorkommnis ereignete sich Mitte November 1793: Jakob
Nigg, ein Wirt zu Gersau, brachte gefälschte französische
"Neunthaler und Zürcher Oertli" in Umlauf, wurde
erwischt und sofort im Rathaus ins "Chefi" gesteckt.
Jakob Nigg konnte aber nachts entweichen und ausser Landes fliehen.
Landammann und Rat von Gersau orientierten die umliegenden Orte
mit einer Personenbeschreibung, dass Jakob Nigg "mit Anheftung
seines Namens an den Pranger, aus unsrem Land und der hochlöbl.
Vier Waldstätten lebenslänglich" vertrieben sein
soll.
Bis zum Ausbruch der Französischen Revolution
in der Schweiz wurde das politische Leben in der kleinen Republik
Gersau von einem Landammann, einem Statthalter und 7 Ratsherren
geleitet; der Landammann war zugleich auch Landeshauptmann und
damit oberster Kriegsherr. Zu diesem 9er-Rat kamen noch wichtige
"Staatsfunktionäre" hinzu: Landessäckelmeister,
Landesfähnrich, Landschreiber und Landweibel. Ueber dem Rat
stand die oberste Instanz, die Landsgemeinde.
Gersau zu Beginn der Helvetik
Schon vor der Französischen Revolution litt
die Gersauer Bevölkerung unter dem Mangel an Nahrungsmitteln
und unter Krankheiten. An der Landsgemeinde von 1771 beschlossen
die Gersauer, Geld aus ihrem Staatsschatz zu nehmen, "um
daraus welschen Weitzen in dem Welschland für unseres Land
anzukaufen". Wöchentlich brauchte man damals in Gersau
immerhin 16 Säcke Weizen.
Im Revolutionsjahr 1798 dürfte Gersau ca. 1300 Einwohner gezählt haben. Insgesamt sollen 154 Wohnhäuser vorhanden gewesen sein; dazu kamen noch ein Schützenhaus, 4 Mühlen, 2 Sägen, 2 Stampfen, 4 Seiden-Fäulen, 1 Seiden-Trockne, 1 Ziegelhütte, 1 Schiffhütte, 1 Nagelschmiede, 1 Wasch- und Holzhaus und 2 Kohlhütten.
Die Republik Gersau bekam die Französische Revolution
erstmals mit dem Schreiben zu spüren, in dem es "von
dem mitverbündeten Schirmort Schwitz um Hülfe gemahnt"
wurde. In 3 ausserordentlichen Landsgemeinden wurde dieses Hilfegesuch
beraten und dann beschlossen, dass die junge, waffenfähige
Mannschaft "fleissiges Exerzieren" üben soll und
dass die Gewehre instandgestellt werden sollen und genügend
Munition angeschafft werden muss. Die waffenfähige Mannschaft
wurde in 4 sog. Pikette eingeteilt. Die Gersauer beschlossen grundsätzlich
an der Landsgemeinde, den mächtigen Feind bekämpfen
zu wollen und allenfalls lieber ruhmvoll zu unterliegen, als Religion
und Freiheit aufzugeben.
Inzwischen traf auch ein Hilfegesuch aus Unterwalden
ein, das an einer eigens dafür einberufenen Landsgemeinde
vom 21. April 1798 behandelt worden ist. Schon tags darauf wurde
das erste Gersauer Pikett mit 54 Mann über den See gefahren.
Unter Hauptmann Johann Georg Camenzind, Leutnant Dionys Nigg -
dem späteren Agenten - und Fähnrich Marzell Baggenstos
zogen die Gersauer nach Stans und von dort Richtung Brünig.
Der Feldzug über den Brünig wurde aber auf Grund der
Geschehnisse in Luzern, in Zug - die Kolinstadt kapitulierte am
29. April - und Schwyz, das am 4. Mai 1798 die neue Verfassung
annahm, jäh abgebrochen, und das Gersauer Pikett kam wohlbehalten
schon nach 10 Tagen zurück. Zum Kampf war es nicht gekommen,
aber die Gersauer hatten eine besondere Aufgabe zu erfüllen:
Das Gersauer Pikett hatte auf dem "wilden Gebirgsstock Sattel"
zwischen der Brünigstrasse und dem Entlebuch einen allfälligen
Einmarsch der Franzosen von Bern her abzusichern!
Noch während der Abwesenheit des 1. Pikettes
liess der Gersauer Kriegsrat, bestehend aus 10 Männern unter
dem Vorsitz von Landammann und Landeshauptmann Josef Maria Camenzind,
das 2. Pikett zu Waffenübungen aufbieten. Im Grenzbereich
gegen Luzern, also an der Grenze zu Vitznau, im Bereich Ober Nas
und bei Unterlinden, wurden Wachtposten aufgestellt. Um die waffenfähige
Mannschaft zu verstärken, wurden die auswärtigen Gersauer
aufgefordert, innert 8 Tagen zurückzukehren und sich in den
Dienst zu stellen, andernfalls würde das Landrecht aberkannt
und damit würden Stimm- und Wahlrecht verlustig gehen. Den
Beisassen, die nicht im Vollbesitz der Gersauer Bürgerrechte
standen, gewährte man nun schnell das volle Landrecht und
damit die politische Gleichstellung, sofern sie Waffendienst verrichten
würden.
Aber auch in der Republik Gersau war man über
die eigentliche Situation und den inneren Zustand der Eidgenossenschaft
nicht im Bild. Inzwischen waren nämlich wesentliche Entscheide
auf höchster Ebene getroffen worden, ohne die Gersauer zu
fragen: Die Helvetische Einheitsverfassung wurde nach mehreren
Abänderungen in Kraft gesetzt. Die Leitung des Staatswesens
unterstand neu einem Direktorium; die Verwaltung der Kantone besorgten
ein Regierungsstatthalter und eine Verwaltungskammer, die beide
von den Weisungen des Direktoriums abhängig waren. Im Mai
1798 wurden die 3 Urkantone und Zug neu als Kanton Waldstätten
bezeichnet und zu einem kantonalen Staatsverband verbunden. Da
nützte auch die Reise des Landammanns und des Statthalters
von Gersau ins Hauptquartier von General Schauenburg in Zürich
nichts mehr. Die ehemals "altfrye Republik Gersau" wurde
dem Distrikt Schwyz zugeordnet, und damit hörte die Existenz
als Freistaat und Zugewandter Ort auf!
Gersau als Munizipalität
Gersau im Distrikt Schwyz
Wenn früher einmal die geographische Lage von
Gersau, die Abgeschiedenheit am Ländersee und am Fuss der
Rigi Scheidegg, wesentlich zur freiheitlichen Entwicklung als
Republik beigetragen haben dürfte, so diente nun dieser geschützte
Ort fremden Truppen bald als sicherer Zufluchtsort. Im Flecken
Gersau, in dem zur Zeit der Helvetik knapp 1300 Einwohner lebten,
dürften mitunter mehr als doppelt soviele fränkische
Soldaten einquartiert gewesen sein. Das brachte der Bevölkerung
sicher grosse wirtschaftliche Not und auch viel Leid.
Die gesetzgebenden Räte hatten am 28. April 1798 in Aarau verordnet, dass künftig an Stelle der Anrede "Herr" in amtlichen Verhandlungen und Briefen der einfache Titel "Bürger" geschrieben und ausgesprochen werden muss. Am 2. Juli 1798 wurde von dieser Behörde der neue Distrikt Schwyz gebildet und zwar mit der Gemeinde Schwyz als Hauptort, mit Steinen, Sattel, Ingen-
bohl, Muotathal und Illgau, Gersau, Morschach.
Mit den übrigen 7 Distrikten, nämlich Einsiedeln, Zug,
Arth, Stans, Sarnen, Altdorf und Andermatt, bildete der Distrikt
Schwyz den neuen helvetischen Kanton Waldstätten.
Am 12. Juli 1798 wurde ein Gesetz erlassen, wonach
die Leistung des Bürgereides verlangt wurde. Die Eidesformel
lautete: "Wir schwören dem Vaterland zu dienen und der
Sache der Freiheit und Gleichheit als gute und getreue Bürger
mit aller Pünktlichkeit und allem Eifer, so wir vermögen,
und mit einem gerechten Hass gegen die Anarchie oder Zügellosigkeit
anzuhangen." Am 26. August 1798 soll in Gersau Schwörtag
gewesen sein. Nach dem Verlesen der Eidesformel mussten die Worte
nachgesprochen werden: "Das schwören wir". Von
den 367 Aktivbürgern dürften beim Schwören einige
gefehlt haben, "da mehrere in bergen wohnen, und theils wegen
ihren häuslichen Angelegenheiten auf nothwendige Pflegung
des S.V. Viehs nicht von Hause komen können", und andere
sollen "Das hören wir" gesagt haben! Die Gersauer
haben auch keinen Freiheitsbaum errichtet.
Die wichtigste politische Person im neuen helvetischen
Kanton Waldstätten, die dem Direktorium am nächsten
stand, war der Regierungsstatthalter. Am 7. Juni 1798 wurde der
ehemalige Landammann von Nidwalden, Bürger Melchior Josef
Alois von Matt, in dieses Amt gewählt. Ihm zur Seite standen
die Distrikts- oder Unterstatthalter. In den Gemeinden wurde ein
Agent eingesetzt. Interessant erscheint, dass in Gersau der junge
Leutnant, der mit dem Gersauer Pikett ins Obwaldnerland marschierte,
zum Agenten bestimmt wurde: Bürger Dionys Nigg. Dieser junge
Agent verstand es ausgezeichnet, zusammen mit Pfarrer Marzell
Alois Nigg, die Bevölkerung zu beruhigen; denn in einer solchen
Krisenzeit gaben Gerüchte aller Art schnell Auftrieb zu unbesonnenem
Handeln. Die grosse Kommunikationsschwierigkeit in der damaligen
Zeit bestand ja darin, dass keine so schnellen Medien vorhanden
waren wie heute und dass die Meldungen mit Boten entweder spät
eintrafen, missverständlich oder schon überholt waren.
Ein Agent musste wohl oder übel ein Doppelspiel
treiben: Einerseits hatte er die Verordnungen von oben in der
Gemeinde durchzusetzen, andererseits musste er bei gewissen obrigkeitlichen
Anordnungen irgendwie auch Rücksicht nehmen auf die Gepflogenheiten,
Ansichten, Sitten und Gebräuche in der Gemeinde selbst. Dionys
Nigg bewährte sich durchaus und stand mit den altgedienten
Landammännern der ehemaligen Republik in gutem Einvernehmen.
Unter diesen war übrigens der ehemalige Landammann Joseph
Maria Camenzind Mitglied des Grossen Rates in Aarau geworden.
Politischer Alltag 1798 - 1803
Für die chronologische Darstellung der sozialpolitischen
und wirtschaftlichen Verhältnisse in Gersau werden die beiden
wichtigsten Quellen aus dieser Zeit zu Rate gezogen, nämlich
das Ratsprotokoll von 1794 - 1809 und das Protokoll der Munizipalität
Gersau. Im Ratsprotokoll von 1794 - 1809, das im Juni 1798 abrupt
endet und erst ab dem 20. März 1803 weitergeführt wurde,
steht noch bis zur Mitte des Revolutionsjahres 1798 die Formel
"Erkantnus unserer Gnädigen Herren", dann folgt
im Juni 1798 der letzte Eintrag : "Nach den eingetrettnen
traurigen Revoluzionszeiten hat sich unsere Existenz mit den übrigen
löbl. Kantonen aufgelöst und an dessen Stelle wurde
durch eine Neue Constitution eine Munizibal Regierung eingeführt,
welche ein besonderes Protocol angelegt den 30. Herbstm. 1798
und fortgesetzt bis den 28. Hornung 1803 haben."
Das Protokoll der Munizipalität Gersau (vgl. Abbildung der Titelseite) enthält interessante Schilderungen der gemeindlichen Verhältnisse von 1798 bis 1803.
Die Urversammlung wählte am 30. September 1798
den Gemeinderat oder die sog. Munizipalität. Erster Präsident
der Munizipalität Gersau wurde Bürger Andreas Camenzind;
ihm zur Seite standen zwei "assessores": Josef Ignaz
Nigg und Johann Balthasar Camenzind. Diese Behörde wählte
Josef Maria Camenzind als Sekretär (Schreiber) und Marzell
Müller als Gemeindeweibel. Im weitern stellte man der Gemeindebehörde
3 Ersatzleute ("Suplianten") zur Seite, nämlich
Karl Camenzind, Ignaz Nigg und Johann Camenzind. - Damit übrigens
die vielen Namensträger Camenzind mit zum Teil gleichen Vornamen
auseinandergehalten werden konnten, wurde ihnen nebst dem 2. Vornamen
noch ein treffender Beiname oder Vulgo beigegeben, z.B. Chlizelli
(Klein-Marzell), Kindlihans (Hans oder Johann vom Kindli), Käpeler
(vom Bauernhof Käpeliberg) usw. Dann enthält dieses
Ratsbuch chronologisch folgende Eintragungen über die Ratssitzungen,
in denen die damaligen Alltagssorgen in der Gemeinde behandelt
wurden. Diese alltäglichen Probleme bezogen sich wie in früheren
Jahren auch in der Zeit der Helvetik auf Vogtkinder (Waisenkinder),
Armenbrot, Holzfällen, Pflanzplätze (Gärten mit
Gemüse, Kartoffeln), Nachtwächter- und Totengräberdienst
usw. Aufgrund der Einquartierung französischer Soldaten kamen
neue Anliegen und Aufgaben hinzu: Nauendienst, Schanzdienst, Requisitionen
(Heu usw.). Interessant erscheint auch, dass mit einmal im Protokoll
(PM) vom Französischen abgeleitete Begriffe erscheinen: "Comissär,
Assessores, Praesident, Secretairs, Ratification, Requisition,
Constitution, District, Respect, Supliant, bureau".
Agent Dionys Nigg nahm von der gewählten Munizipalität den Eid auf die Verfassung ab. In dieser ersten Gemeinderatsversammlung wurden 15 Erlasse beschlossen, u.a.
- Entlöhnung für Fahrten mit dem Schiff,
- Einquartierung der Truppen in Wohnhäusern,
- Abgabe von Getränken an die Truppen: "den Truppen anstatt Wein, Most zu geben; für ein Man tags eine Mass."
- Bürger, die der neuen Loge kein Verständnis entgegenbrachten und demzufolge als "Lärmer und Ruhstöhrer" galten, konnten vom Agenten mit mehr Einquartierung belastet werden "als friedliche Bürger."
- Weil sich Alexi Nigg weigerte und sich versteckte
und dem Befehl des Agenten nicht nachkam, mit dem Schiff nach
Brunnen zu fahren, wurde er vom Rat "24 Stund in arrest gesetzt."
Im Protokoll der Munizipalität Gersau von 1798
bis zum 28. Februar 1803 sind nur 45 Sitzungen für diese
Zeit angeführt. Die Eintragungen beziehen sich mehr auf gemeindliche,
innenpolitische Anliegen als auf gewichtige aussenpolitische:
Am 9. Oktober 1798 beschloss der Rat, "dass
das holtzen und stumpfen in Nationalwäldern ohne Erlaubnis
des aufsehers oder der Munizipalität gäntzlich"
verboten sei. Nachtwächter Andreas Niederer erhielt den Ratsauftrag,
"bey nächster Zeit die Kamin der Gemeinde zuo ruossen."
Ein Eintrag zur Ratssitzung vom 17. Januar 1799 lautet:
"Comissär D. Nigg quittiert die stell, und dero halben
wird die Verwaltungs-Kamer zu Schweitz (Schwyz) der Silvan Küttel
vorgestellt."
Am 3. Februar 1799 frägt der Rat die "Verwaltung
von Schweitz, ob Bürger, die verheürathet sind, aber
kein Eigen Feür und Liecht besitzen, auch quartier tragen
müssen oder nicht."
Der Munizipalität Schwyz lieferte man am 17.
Februar 1799 50 Zentner Heu, obwohl die Gersauer Bauern selbst
unter Heumangel litten.
Trotz der neuen Verhältnisse berief man sich
immer wieder auf alte Satzungen, so auch am 28. März 1799:
"Ergeth den nächsten Sontag der Ruff, dass laut alten
articklen das Motten verbotten sey, bim grass und Laub davor ist."
Am 3. April 1799 wählte eine Urversammlung die
neue "Munzibalitet". Neuer Präsident des Gemeinderates
wurde Bürger Johann Kaspar Camenzind; dazu kamen 4 weitere
Ratsmitglieder, nämlich: Josef Andreas Rigert, Martin Baggenstos,
Johann Georg Niederer und Josef Maria Camenzind, der vorher Gemeindesekretär
war. Dieser neue Rat wählte dann am 19. April 1799 "Br.
(Bürger) Joseph Maria C.Z. (Camenzind) Munzibalist als Munizibalitet
procurator", Alois Küttel als neuen Gemeindesekretär
und Johann Georg Müller als Gemeindeweibel. Im weitern wurde
Bürger Silvan Küttel "als Feür Hauptman confirmirt"
und Bürger Ignaz Nigg "als aufseher über das Korn"
ernannt. Der Gemeindeweibel erhielt den Auftrag, an "Son-
u. Feyrtagen die gesetze u. Decrete zu publicieren nach dem gottesdienste."
Weil anfangs April 1799 die allgemeine Lage eher
wieder unsicher wurde, mussten Wachen aufgestellt werden; im übrigen
verbot der Rat das Tanzen, hingegen "wird den Bürgern
Musicanten wieder erlaubt, zur Auferbauung und zur Ehre Gottes
zu musicieren während dem gottesdienst" .
Nebst Silvan Küttel wurde Jost Nigg "als
Feürhaubtman erwählt." Uebrigens war Jost Nigg
ein damals in der Innerschweiz bekannter Hafnermeister, der u.a.
einfache, aber bewährte Oefen erstellte, so im Zwyssighaus
in Bauen (1793) und im Haus des jetzigen Bruder Klausen-Museums
in Sachseln.
Am 7. Mai 1799 verlangte der Regierungsstatthalter,
dass sich 7 Schiffleute von Gersau in Brunnen zu melden hatten
und zur Verfügung stehen mussten. Abgeordnet wurden die Bürger
Josef Maria und Martin Nigg, Alois Müller, Sebastian Camenzind,
Anton Rigert, Kaspar Müller und Anton Camenzind.
Im Mai 1799 wählte der Rat 2 Nachtwächter,
die zugleich auch als Totengräber wirken sollten und "wird
nebigen 2 Todtengrebern 2 Schaufflen angeschafft" (fol. 12).
Am 13. Juni 1799 mussten auf Befehl von Unterstatthalter
Truttmann 20 Männer "zum Schantzen" (Erdarbeiten
zur Abwehr) nach Küssnacht abgeordnet werden: "obigen
20 Männern werden 20 brod und 2 Kes für Speis mitgeben.
Immerhin verweigerten 3 Gersauer diesen Dienst und
wollten nicht mit dem Nauen nach Küssnacht fahren; sie wurden
vom Rat verwarnt und führten dann den Befehl aus. Am 21.
Juni 1799 wurden neu 12 Männer zum Schanzdienst nach Küssnacht
aufgeboten. Und weil auch vom Urner See her Gefahr drohte, wurden
"auf befehl von bürger Comandant de Schaluppe (von den
Franzosen übernommene Bezeichnung für "Kommandant
zur See") 2 Man zum Kindli Mord verordnet, zu beobachten,
ob etwas neues einfalle".
Anfangs Juli 1799 wurden die Wirte ermahnt, "die
Truppen der Francken" zu bewirten, sonst durfte auch den
Einheimischen kein Trank abgegeben werden. Damals soll es 6 Wirtschaften
gegeben haben, davon 4 mit Namen: Rössli, Sonne, Krone und
Adler.
Die fränkischen Offiziere wurden übrigens
in den besseren Häusern einquartiert, meist in den Häusern
der Ratsherren. Für die Einquartierung und für allfällige
Beschädigungen konnte der Munizipalität Rechnung gestellt
werden. Am 9. August 1799 wurden der Präsident der Munizipalität
und der Gemeindeweibel beauftragt, mit den fränkischen Offizieren
darüber zu sprechen, dass die Soldaten "eine bessere
Ordnung halten mögen in betreff von Rauben und stehlen".
Es dürfte wohl auch vorgekommen sein, dass sich fränkische
Soldaten mit Gersauer Mädchen "eingelassen" haben,
und vermutlich hat die eine oder andere dazu "Hand geboten".
Der Rat hatte sich in einem Fall damit befasst, "betreff
des betragens der Jungfrau Magdalena C.Z. /: pfite Mathle genant,
wird verordnet, dass solches in einem berghaus (!) solle veranordiert
werden, so lange die Fränckischen Truppen sich hier befinden."
Die Magdalena Camenzind wurde also im Dorf gleichsam "ausquartiert"
und in einem Bergheimet, fern von fränkischen Soldaten, untergebracht.
Früher war es Brauch, dass die Ratsherren an
hohen Festtagen oder am sog. Seelensonntag, angeführt von
der Geistlichkeit, in der Kirche einen Umgang (Prozession) machten.
Am 2. November 1799 beschloss der Rat, dass "sich alle Munizipalisten
Sonn u. Freytag in das Kor mit Mentlen (Mäntel) begeben sollen,
im fall aber einer in die Kirchen kome ohne Mandtel und nit ins
Chor, so ist er um eine Maass Wein verfallen."
Der Rat bestimmte am 27. April 1800, an welchen Festtagen
(18) die Musikanten in der Kirche spielen durften: Neujahr, Hl.
3 Könige, Marzellus, Maria Lichtmess, Ostern, Ostermontag,
Auffahrt, Kirchweihfest, Pfingsten, Pfingstmontag, Fronleichnam,
St. Anna, Maria Himmelfahrt, Maria Geburt, Allerheiligen, Maria
Empfängnis, Weihnachten, Stefanstag. Zudem wurde die "Muusiggesellschaft
(!) beauftragt, dass sie das Curat mit bessern Sängern einrichten."
Am 8. Mai 1800 fanden Neuwahlen in die Munizipalität
statt. Bürger Andreas Camenzind wurde ein zweites Mal zum
Präsidenten der Munizipalität gewählt; ihm zur
Seite standen als Mitglieder die Bürger Hans Georg Camenzind,
Franz Karl Camenzind, Josef Müller und Marzell Baggenstos.
Als erstes erhielt die neue Munizipalbehörde den Auftrag,
unter Mithilfe von Schwyz "3600 rationen Fleisch nebst 7
pferd mit drey fuhrman" nach Altdorf zu führen.
In einem Eintrag vom 13. Juni 1800 wurde die Föhnwacht
neu geregelt: "Solle in Zukunfft in beyden dörfern als
von einer Fluoh bis zu der anderen die Föhnen wacht gehalten
werden. Solle jeden abend, wan der Föhn geht 6 Man organisiert
seyn, die Föhnen wacht nach alter thur zu versehen, als drey
vor und 3 nach Mitternacht" .
Die Munizipalbehörde beschäftigte sich
mit allen, auch den kleinsten Anliegen, so u.a.
- Die Kinder sollen "nach bethglogenszeit nicht
mehr auf den gassen herumschwermen".
- "solle zum drost der auff dem Freithoff ligenden
armen Seelen ein weihwasser stein bey der strass hinder dem beyn
hauss gegen die Fluo in die Mauern eingesetzt werden".
- Katharina Camenzind erhielt wegen eines nicht näher
umschriebenen Vergehens eine Strafe, indem sie während 3
Jahren "in dem vordersten Stuohl in der Kirchen" sitzen
musste; sie wurde während dieser Zeit auch vom Tanzen ausgeschlossen!
- Vermutlich standen auf einem Grabkreuz früher
nur der Name und Vorname und nicht auch die Lebensdaten, sonst
hätten die Totengräber nicht angehalten werden müssen,
dass sie sich beim Pfarrer oder beim Sigristen vor einer Ausgrabung
erkundigen sollen, "dass die in diesem Grab gelegnen Persohn
über 5 Jahr" darin gelegen hat.
- Sogar über das Halten eines Hundes wurde befunden.
So musste der wohl "armengenössige" Andreas Niederer
"an der Fluo" seinen Hund "abschaffen" (weggeben),
wenn ihm in Zukunft nicht "das Kirchen Brod für allezeit
untersagt seyn soll". Die armen Leute erhielten nämlich
von der Gemeinde wöchentlich ein Brot, das öffentlich
in der Kirche ausgeteilt wurde.
- Oft musste sich der Rat mit Holzfrevel beschäftigen.
So hatten Johann Waad und Alois Camenzind freventlich 2 Eichen
"in den Blätzen" gefällt. Sie wurden hart
bestraft. Für einen verbotenen Holzhau wurde auch der Knabe
Georg Camenzind, "Fidmen Baschis Sohn", bestraft; weil
er noch jung und unerfahren war, wurde er "getadelt mit einem
ernsthaften Zuspruch wie auch, das er morgens 3 Rosenkränz
bey Maria Hilf bethen solle" (fol. 193). Das Holz war kostbar,
und so verwundert nicht, dass man den Holzbestand schonte. Der
Rat musste um Bewilligung für das Holzfällen ersucht
werden. So wurden "dem Georg C.Z. (Camenzind) Pfister zwey
Eichen aufgezeichnet, für welche er 7 gl 20 B (= 300 Batzen!)
bezahlen soll." Und "Joh. Jos. Küttel verlangt
etwa 40 od. 50 Stuk Holtz zu einem Hauss, welches er im Remsi
(Rämsli) bauen will, die ihm im Brügen Wald sollen aufgezeichnet
werden".
- Bei kirchlichen Prozessionen wurde "der Himel
und andere Bilder selten ordentlich von Lantleüthen herum
getragen"; deshalb beschloss der Rat, "dass der Himel
von den jüngsten Munizipalisten solle getragen werden".
- Immer wieder musste sich der Rat mit den "Bachweren"
befassen, die "durch den bach ziemlich ruiniert" worden
sind. Besonders der Dorfbach musste immer wieder von Geröll
und Baumstämmen gesäubert werden.
- Der Rat befasste sich sogar mit dem Mist-Anlegen.
Er verlangte am 10. Juni 1802 vom "Mettlen Bauer", dass
er den letztjährigen Mist, den er noch nicht ausgetragen
hatte, sofort ausführe und anlege.
- Georg Camenzind auf der Obermatt musste vom Rat
ermahnt werden, dass er nach "Artikel 1 SV Stier zu seinem
Vieh auf die Alp thun solle." Es war nämlich Brauch
und auch Gesetz, dass auf einer Kuhweide immer auch ein Stier
gehalten werden soll.
Am 3. Dezember 1801 fand eine ausserordentliche Ratssitzung
statt, in der darauf hingewiesen wurde, dass der 1. Landammann
Reding in wichtigen Geschäften nach Paris zum "Ersten
Consull" gereist sei. Durch seine Abwesenheit könnte
"das Vatterland von den anhängern der alten Regierung
gefährent werden"; daher ordnete die Gemeindebehörde
an, dass das Kriegsmaterial in gutem Zustand gehalten werden soll
und dass eine Kommission "Pley und Pulfer" anschaffen
soll. Die Gersauer kauften bei Pulvermacher Gottfried Sager in
Brunnen 25 Pfund Pulver für 15 Gulden 25 Batzen (= 625 Batzen).
Am 16. Mai 1802 fand eine weitere sog. Urversammlung
der Munizipalität und Gemeindeverwaltung von Gersau statt.
Es war die Wahlgemeinde, an der die neue Behörde gewählt
wurde, nämlich: Alt Landammann Josef Maria Camenzind als
Präsident sowie als Mitglieder die Bürger Josef Nigg
(Rotzingel), Johann Wolfgang Müller (Tannenboden), Marzell
Baggenstos (Föhnenberg), Alois Küttel, Felix Niederer
und Sebastian Rigert (Nagelschmied). Diese Behörde musste
am 9. Juni 1802 im Rathaus den Gersauer Bürgern die "Neue
Constitutio" zur Annahme oder Verwerfung vorlegen. Es handelte
sich um die Verfassung vom 20. Mai 1802. Die 310 Aktivbürger
von Gersau verwarfen diese einmütig; vielmehr beriefen sie
sich auf die alten Freiheiten, "als nämlich die von
unsern Vättern mit Gutt und Blut erworbene freyheit und Rechten
feyrlichst vorzubehalten". Mit diesem Zusatz wird klar, dass
man sich mit den neuen Verhältnissen nicht abfinden konnte
und immer wieder, bei bester Gelegenheit, sich auf die alten Rechte
besann.
Ab August 1802 erscheint im Protokoll anstelle von
Munizipalität zum ersten Mal der Begriff "Gemeinds Rath".
Dieser beschloss am 27. August 1802, eine Landsgemeinde nach dem
Gottesdienst einzuberufen und Soldaten für 4 Pikette auszulosen,
"wobey ein jeder bey Eyden erscheinen solle". Die 18
bis 50jährigen Bürger mussten das Los ziehen. Der Rat
setzte den Sold fest. Der Hauptmann erhielt 1 Gulden und 15 Batzen,
der Leutnant 1 Gulden und 5 Batzen, der Wachtmeister 38 Batzen
und die Korporale und der "Dambur" (Trommler) 32 Batzen.
Weiters hielt der Rat im Protokoll fest, dass "wan einer
plaesiert (verletzt) oder mit Tod im Felde abgieng, so ist es
an unterstützung einer Vätterlichen Obsorg des wohlw.
Gemeinds Rath überlassen".
In diesen unruhigen Zeiten wurden vom Rat am 12.
Oktober 1802 die Durchführung des Schützenfestes und
auch das Tanzen verboten.
Das Protokoll der Munizipalität Gersau (PM)
endet mit dem letzten Eintrag vom 28. Februar 1803 : "Ende
der Verrichtungen dieser Munc. Worauf ein wohlweis. Rath erwelt
wurde, nämlich wie vorher (d.h. vor 1798!): der H. Landaman,
Statthalt. und Siebn. Raths Glieder, wessen Verrichtung im Rath
Erkantnus Buch Protocoliert wird."
Im Ratsprotokoll 1794 - 1809 (RP5) wurden dann die
Ratsgeschäfte ab 20. März 1803 (fol. 139) eingetragen,
wobei die Ratssitzungen wieder mit der alten Formel begannen:
"Aus Erkantnus unseren Gnädigen Herren und Oberen".
Weitere Eintragungen über das politische Geschehen in Gersau
ab 20. März 1803 finden sich im Landgemeindebuch von 1784
- 18369.
Das Titelblatt
dieses Landgemeindebuches ziert eine "vorhelvetische"
Handzeichnung mit dem Gersauer Landwappen (Rot und Blau), das
von einem Löwen gestützt wird; der Schildhalter Löwe
schaut in die dem "Gess-
lerhut" entgegengesetzte Richtung! Der künftige
Abwehrkampf scheint dadurch angedeutet, dass neben dem Landwappen
eine Trommel, ein Kanonenrohr, ein Schwertknauf, 3 Fahnen und
ein Spiess dargestellt sind.
Stapfer-Umfrage 1799
Minister Philipp Albert Stapfer (1766 - 1840) liess
im Jahre 1799 u.a. den "Zustand der Schulen" untersuchen.
Dies geschah mit sog. Enquêten (Umfragen). In jeder Schweizer
Gemeinde mussten in der "Pfarrer-Enquête" Fragen
an die "Religionsdiener" und in der "Lehrer-Enquête"
Fragen über die Schulverhältnisse beantwortet werden.
Interessant erscheint diese Stapfer-Umfrage inbezug auf den Zustand
der Schule in Gersau:
"Gersau, ein Dorf, Gemeind und Pfarre dieses
Namens im Districkt Schwyz, Kanton Waldstätte, hat eine Schule."
Im Dorf wurden 81 Häuser gezählt; 39 Kinder gingen in
diesem Umkreis zur Schule.
Im Umkreis der ersten Viertelstunde lagen 19 zerstreute
Häuser ("Matten genannt"), und aus diesem Umkreis
ging nur 1 Kind zur Schule.
Im Umkreis der zweiten Viertelstunde befanden sich
3 namentlich erwähnte Höfe "Forst, Brand, Kindleinsmord".
Von hier ging kein Schulkind ins Dorf.
Innerhalb des Umkreises der dritten Viertelstunde
standen 9 Häuser, "genannt Rothenschuhe". Aus diesem
Umkreis gingen 3 Kinder zur Schule.
Innerhalb des Umkreises der vierten Viertelstunde,
"genannt Mittlerberg", lagen 35 "zerstreute und
Stunden weit von einander entfernte Häuser". Aus diesem
Rigibergbereich kam niemand zur Schule.
Im Umkreis der 5. und 6. Viertelstunde, "genannt
oberste Berge" standen 9 Häuser, und aus diesem Bereich
kamen immerhin 2 Kinder zur Schule.
Im Land Gersau zählte man 1799 gemäss Enquête
156 Häuser; den Schulunterricht besuchten immerhin 45 Schüler,
von denen 39 aus 81 Häusern im Dorf zur Schule ins Rathaus
(1745) kamen, während die übrigen 6 Schüler aus
den 75 entfernteren Heimwesen ins Dorf marschieren mussten.
Unterrichtsfächer waren Lesen, Schreiben, Rechnen
und Religion sowie die "Anleitung zum Briefschreiben."
Zudem wurde 3 Knaben Lateinunterricht erteilt. Der Schulunterricht
dauerte vom Anfang des Wintermonats (November) bis zum Herbstmonat
(September). Als Schulbücher dienten "das Namensbüchlein,
Rechenkunst, Anleitung zum Briefschreiben. Nach der Normal von
St. Urban." Als Lesebuch und für den Religionsunterricht
wurde der "bischöflich-Constanzische Cathechismus"
benützt. "Mehrere Bücher sind wegen Armuth des
Ortes nicht eingeführt." Täglich wurden "wenigstens"
5 Stunden Schulunterricht gehalten; am Dienstag und Donnerstag
Nachmittag war "Vakanz" (schulfrei).
Als Schullehrer wirkte zu dieser Zeit Pfarrhelfer
"Joseph Etter, gebürtig von Menzingen, 32 Jahre alt,
9 Jahre Schullehrer. Er ist zugleich Helfer und als solcher dem
Pfarrer des Ortes in der Seelsorge behilflich. Er hat meistens
in Solothurn gestudirt."
Von den 45 Schulkindern waren 30 Knaben und 15 Mädchen,
die winters zur Schule kamen; im Sommer "mag sich die Zahl
der Knaben auf 20, jene der Mädchen auf 10 belaufen."
Auch "Oekonomische Verhältnisse" wurden
festgehalten: Es war kein Schulfonds vorhanden; vielmehr musste
für jedes Schulkind Schulgeld bezahlt werden; arme Schulkinder
erhielten ein Almosen.
Die Antworten auf die "Fragen an die Religionsdiener"
bestätigen die bekannten kirchlichen Verhältnisse: Die
Pfarrgemeinde Gersau, im Distrikt Schwyz, gehörte zum Kanton
Waldstätten und zum Bistum Konstanz. Für die Seelsorge
war die Pfarrpfründe verantwortlich und für die Erteilung
des Schulunterrichts die "Helferpfründe". Wir erfahren
aus dieser Umfrage, die Pfarrer Johann Marzell Alois Nigg und
Pfarrhelfer Kaspar Joseph Etter beantwortet haben, dass der Pfarrer
51-jährig und "von vielen Krankheiten geschwächt",
der "Helfer 34 von ziemlich guter Gesundheit" ist. Beide
sind "Weltpriester", wobei der Pfarrer "etwan 10
jahr zu Luzern, und der Helfer eben so lang zu Solothurn studiert"
haben.
Neben der alten, nah am See gelegenen St. Marzellus-Kirche
gab es "zwey Kappellen, die einte am See, eine halbe stund
vom Dorf gelegen, ist gut, die andere auf dem Berg, eine Stunde
entfernt, ist sehr schlecht im Stand. Die Pfarrkirche hat jährlich
etwa zu 200 Gl. Zins von Kapitalien". Die Verwaltung dieses
Fonds und jenes der Kapelle Maria Hilf am See wurde von der Gemeinde
wahrgenommen, während die "Kappelle auf dem Berg von
dem Besitzer des Gutes besorgt" wird.
Gersau bleibt auch so Gersau ...
Die französische Revolution brachte dem Land
Gersau zwar das Ende der Republik, das Ende des mittelalterlichen
Freistaates mit seinen Vor- und Nachteilen; andererseits aber
führte diese Phase von 1798 - 1803 zum Beginn einer gemeindlichen
und staatlichen Neuorientierung. Immerhin erhielten die Beisassen
in der Gemeinde Bürgerrechte, wie diese nur die alteingesessenen
Bürger besassen. Die Bevölkerung dürfte sich zwar
wenig um die eigentlichen Ideen der Revolution gekümmert
haben, aber der Agent und Vermittler sowie die Munizipalisten
kamen umso stärker in Kontakt mit dem neuen Gedankengut und
vor allem auch mit Politikern anderer Distrikte. Gersau war mit
einmal nicht mehr so abgeschlossen, und entscheidend für
die weitere Entwicklung war, dass es 1798 als Gemeinde dem Distrikt
Schwyz zugeordnet worden war. Von daher ist es nicht verwunderlich,
dass der Entwurf für die Verfassung des Kantons Schwyz im
Art. 1 lautete: "Der Kanton Schwyz begreift die ehemalige
Gemeinde des Kantons in sich, ferner Küssnacht, die Höfe,
das Gebiet von Einsiedeln, die March mit Reichenburg und die
vormalige Republik Gersau.
Der Gersauer Heimatdichter Josef Maria Camenzind
(1904 - 1984) schildert in seinem Roman "Schiffmeister Balz"
die rechtsstaatliche Situation von Gersau, aber auch das Fühlen
und Denken der damaligen Gersauer treffend, wenn er nach jenem
entscheidenden Tagsatzungsbeschluss von 1817 den Schiffmeister
sagen lässt: "Gersauer! Sagt, was ändert sich eigentlich,
wenn wir's recht bedenken, bei uns? Seht euch unsere Heimat an,
die Matten, die Wälder, die Alpen, die Heimetli, das Dorf,
den See. Dies alles bleibt auch jetzt unsere Heimat, unsere freie
Heimat! Wir werden, wie bisher, unsere Behörden wählen
aus unsern eigenen Leuten. Wir sind und bleiben Eidgenossen, freilich
eingegliedert in einen grösseren Staatsverband, in den Kanton.
Kein einziger fremder Mensch wird hierher ins Dorf ziehen und
über uns regieren. Wir bleiben unsere eigenen Herren, was
die Gemeinde angeht. Gersau bleibt auch so Gersau, ein freies
Volk und ein freies Land." Diese Schlussgedanken des Heimatdichters
finden sich heute, leicht verändert und in zu bestimmter
Form auf dem Brunnen vor dem alten Rathaus von 1745.
Albert Müller, Zug
Weitere Literatur
Die "Gersauer Bibliographie" ist in einem
umfassenden Verzeichnis enthalten: Schwyzer Hefte, Band 40: Das
Rathaus der altfryen Republik Gersau (Schwyz 1987).
Die Geschichte von Gersau, Zweiter Band
Gersau als Teil des Kantons Schwyz / Aeussere Geschichte
Aeussere Geschichte von Gersau 1798 - 1848 von Josef M. Mathä Camenzind, Pfarrhelfer zu Gersau (1816 - 1883)
(Gersau 1953)
Gersau - Von der Republik zum Bezirk von Albert Müller, Zug
in: Mitteilungen des Historischen Vereins des Kantons Schwyz,
Heft 65 / 1972
Gersau - 650 Jahre im Bund der Eidgenossenschaft 1332 - 1982
Festschrift zum Jubiläumsjahr von Dr. phil.
Albert Müller-Schmid, Zug / Gersau (Buchdruckerei Müller
AG, Gersau 1982)
Das Rathaus der altfryen Republik Gersau, in: Schwyzer
Hefte, Band 40, Schwyz 1987
Manuskripte des P. Martin Gander über die "Zeit
der Helvetik, geschrieben in den Jahren 1913 - 1916" (5 Bände)
Stifts-Archiv Einsiedeln, zitiert: GANDER
Die Turmkugel-Dokumente der Pfarrkirche Gersau (Abk. TDG)
In: Mitteilungen des Historischen Vereins des Kantons Schwyz
Heft 76 (1984) und Heft 77 (1985), Einsiedeln
zitiert: TDG / MHVS 76 oder 77
Ratsprotokoll 1794 - 1809 (RP 5) im Bezirksarchiv
Gersau (zitiert: BAG / RP 5)
Protokoll der Munizipalität Gersau (1798 - 28.2.1803)
im Bezirksarchiv Gersau (zitiert: BAG / PM)
Staatsarchiv Schwyz: Theke 267 (Gersau)
BAG: Landgemeindebuch I (1784 - 1836)
Actensammlung aus der Zeit der Helvetischen Republik
(1798 - 1803), bearbeitet von Alfred Rufer. XVI. Band des Gesamtwerkes
der kulturhistorischen Serie VI. Band, Freiburg 1966 (ab S. 263
ff.), mit "Beantwortung der Fragen Ueber den Zustand der
Schulen" (No. 49) und "Antwort auf die Fragen an die
Religionsdiener" (No. 132).
400 Jahre Sennenbruderschaft / Sennengesellschaft
Gersau, in: Festschrift zum Jubileum der Sennengesellschaft Gersau,
Gersau / Schwyz 1993. S. 20 f. Die Kapelle auf "Chäppeliberg"
Gersau - von der Republik zum Bezirk. Separatdruck
aus "Mitteilungen des Historischen Vereins des Kantons Schwyz",
Heft 65/1972.
Josef Maria Camenzind, Schiffmeister Balz (Roman
S. 369), Rex-Verlag, Luzern / Stuttgart (1985)